Als Christian Morgenstern nach Werder kam

Heute fand der Festakt zum Morgenstern-Jubiläum 150+1 statt. Bürgermeisterin Saß befand in ihrem Grußwort: Der „Bund der Galgenbrüder" klingt sehr nach Obstwein!

Fotos: Stadt Werder (Havel) / hkx
Fotos: Stadt Werder (Havel) / hkx

Nach einer Wissenschaftlichen Tagung am 13. Mai zum Christian-Morgenstern-Jubiläum 150+1 auf der Bismarckhöhe hat heute im Saal des Schützenhauses ein Festakt zum Jahrestag des Geburtstag des berühmten Dichters stattgefunden. Veranstalter war die Christian Morgenstern-Gesellschaft in Werder (Havel).

Das Programm wurde gestaltet mit einer Festansprache der Schriftstellerin Roswitha Quadflieg, Rezitationen von Lienhard Hinz und Hans-Jochen Röhrig, Galgenliedern zur Gitarre von Rolf Janssen sowie einer Einlage des „Zirkus Morgenstern" der Freien Waldorfschule Werder (Havel), die den Namen des Dichters trägt. 

Werders Bürgermeisterin Manuela Saß hielt zum Festakt ein Grußwort, das nachfolgend dokumentiert wird:

Christian Morgenstern ist weder in Werder (Havel) geboren, noch ist er hier gestorben. Er lebte und wirkte hier nicht. Es ist auch nicht bekannt, dass er sich jemals länger in der Stadt aufgehalten oder die Stadt Werder explizit in seinen Werken erwähnt hat.

Viele Jahrzehnte lang beschränkten sich die wenigen Erinnerungen an ihn auf zwei ältere Damen, die zum Baumblütenfest 1895 im Bereich des Galgenbergs die Gäste bewirtet hatten. Sie sind längst verstorben.

Und dennoch ist Christian Morgenstern im Gedächtnis der Stadt präsenter denn je. Heute scheint gesichert: Den 5. Mai 1895 hat er mit einigen Freunden auf dem Galgenberg verbracht und hier den „Bund der Galgenbrüder" gegründet.

Es war ein Goldener Sonntag, der Haupttag des Baumblütenfestes in Werder in jenen Jahren. Und es war die Geburtsstunde der Galgenlieder.

In diesem Jahr feiern wir ein besonderes Jubiläum: Den Geburtstag von Christian Morgenstern, 150+1. Es hat sich gelohnt, ein Jahr mit der Feier zu warten: Es war und ist ein Frühling, wie wir ihn leider nur noch selten erleben. Die Kirsche blühte spät und lange und eine Zeitlang gemeinsam mit dem Apfel und einer ganzen Schar von Frühblühern in den Werderaner Gärten. 

Das Baumblütenfest ist einer der Anknüpfungspunkte der Stadt zu dem Dichter: Und was ist am wichtigsten zur Baumblüte? Na klar, das Wetter. Nach Daten des Deutschen Wetterdienstes soll der 5. Mai 1895 nach einem trüben Samstag ein heiterer, leicht bewölkter Frühlingssonntag gewesen sein. Die Temperaturen stiegen auf bis zu 21 Grad.

Es war also bestimmt voll. Das Fest existierte da erst seit 16 Jahren.

„Zwischen der Reichsgründung und dem ersten Weltkrieg erblühte die Stadt“, wie es in unserer zum Stadtjubiläum erschienen Werder-Chronik heißt. Ich begrüße hier den Mit-Herausgeber der Chronik, unseren Ehrenbürger Dr. Baldur Martin, auf dessen Recherchen zur Stadtgeschichte ich immer wieder gern zurückgreife. Er wird jetzt darauf achten, dass ich mit den Jahreszahlen nicht durcheinander komme.

Begeben wir uns also ein wenig zurück in Werders Vergangenheit. 1873 hatte Fontane der Stadt ein Kapitel im 3. Band seiner Wanderungen gewidmet. Es gibt Zuzug und Werder wird zum beliebten Ziel für Ausflüge und Reisen. Das Werdersche Spezialbier ist damals ein Kassenschlager, Fontane schwärmt davon. Die boomende Reichshauptstadt wird mit Ziegelsteinen aus Werder und Glindow beliefert. Werders Landschaft ist von den Schornsteinen der Brennöfen geprägt.

Und natürlich von Obstbäumen und Beerensträuchern. Die Stadt ist die Obstkammer Berlins, im Etagenobstbau wird jeder Quadratmeter Land zum Geldverdienen genutzt. Oben die Obstbäume, in der Mitte die Beerensträucher, unten die Erdbeeren und Blumen. Man kann sich in unseren Schuffelgärten hinter der Tourist-Information anschauen, wie das einmal ausgesehen hat.

Werders Obstbauern verkaufen ihre Erzeugnisse in Potsdam und in Berlin auf dem Werderschen Markt. Als die Konkurrenz wächst, wird 1878 der Obstbauverein aus der Taufe gehoben. Im Jahr darauf gibt es die Idee, in den Berliner Zeitungen für die Baumblüte zu werben. Das Fest wird mit 50.000 Gästen ein voller Erfolg.

Zunächst wird nur Bier und Saft ausgeschenkt. Die Obstbauern versuchen sich erst seit den 1890er-Jahren an Obstwein. Viele der Obstbaufamilien waren früher ja haupterwerblich im Weinbau aktiv gewesen.

Womöglich hat Christian Morgenstern mit seinen Freunden also einen der ersten Obstweinjahrgänge in Werder getrunken. Die Idee eines Galgenbrüderbundes klingt jedenfalls danach.

Denken wir über den Weg nach, den die Truppe vom Bahnhof genommen hat. Das Bahnhofsgebäude war damals relativ neu. Die Hänge zwischen der Eisenbahnstraße und dem Hohen Weg waren von Obstgärten geprägt, Fontane schreibt von „ganzen Kirschbaumwäldern“: Und weiter: „In wohlgerichteten Reihen neigen die Bäume ihre fruchtbeladenen Zweige.“

Die Gleise zur Pferdestraßenbahn werden gerade verlegt, bei Morgensterns Besuch fährt noch ein Pferdeomnibus.

In der Festchronik von Dr. Martin ist nachzulesen, dass es im Vorjahr von Morgensterns Besuch, im Jahr 1894, die ersten Klagen über das Baumblütenfest gegeben haben soll: über „schlecht behandelte Biere und mangelhafte, aber teure Speisen“. Fremde Obstverkäufer trüben die Erträge der Werderaner Obstbauern. Manche Gäste fühlen sich durch Kinder, die Maiblumen verkaufen, durch Laierkastenspieler und Bettler belästigt.

Mit dem Erwerb des Restaurants Galgenberg durch Gustav Altenkirch beginnt im selben Jahr aber auch eine neue Erfolgsgeschichte, die in die schrittweise Errichtung des Hauses mündet, das wir durch diese Fenster sehen können und das hier noch eine Rolle spielen wird. Die Bismarckhöhe.

In diese Stimmung hinein kommt am 5. Mai 1895 Christian Morgenstern mit seinen Freunden in die Stadt. Sein Ziel ist der Galgenberg, damals ein Hauptschauplatz des Festes. Für den kleinen Trupp, der dem jungen Deutschen Reich eher skeptisch gegenübersteht, vermutlich ein spannender und mystischer Ort.

Das alles klingt ja bereits nach einer interessanten Mischung. Offenbar wurden die Zecher auch noch der Schankstätte auf dem Galgenberg verwiesen. Sie feierten im benachbarten Kassinschen Garten weiter. So etwas kann durchaus kreative Prozesse anregen, was dann ja tatsächlich auch passierte. 

Einen Tag später hat der Dichter Geburtstag. Dass die Atmosphäre des Baumblütenfestes, der Name des Galgenberges und das Rundherum seine Phantasie angeregt haben, ist bekannt. Wie gut Christian Morgenstern die Geschichte des Galgenbergs kannte, ist nicht überliefert.

Es ist der zweite Anknüpfungspunkt der Stadt Werder zu ihm. Dank unserer unermüdlichen Heimathistoriker können wir Morgenstern auch hier postum auf die Sprünge helfen.

Seit 1851 waren öffentliche Hinrichtungen in Preußen verboten, sie mussten in umschlossenen Räumen stattfinden. Als Morgenstern in Werder ist, hat der Galgenberg also schon seit Jahrzehnten ausgedient.

Wie viele arme Sünder mit Blick auf die Havel davor ihr Leben auf dem Galgenberg verloren haben, war auch nach Recherchen der Heimathistorikerin Ilse Schumann in unseren von Dr. Martin herausgegebenen Heimathistorischen Heften nicht in Erfahrung zu bringen.

Es gibt keine Dokumente darüber. Über Hinrichtungen in der Gegend und auf anderen Galgenbergen in der Mark Brandenburg gibt es sie durchaus.

Werders Galgenberg ist bereits 1680 auf einem Atlas zu finden. Das Scharfrichterhaus am Plantagenplatz legt ja von diesem Puzzlestein der Stadtgeschichte immer noch Zeugnis ab, auch wenn man mit der asiatischen Küche und den leckeren Crêpes nicht gerade darauf gestoßen wird.

Am Hausgiebel wird man es mit dem Motiv des Scharfrichters durchaus. Scharfrichter waren nicht gerade angesehene Bürger, zu ihrem Geschäft gehörten Folter und Tod. Oft waren sie zugleich als Abdecker tätig. Seit 1610 sind Scharfrichter in Werder dokumentiert. Andreas Bachhuber war der letzte seiner Zunft in der Stadt.

1828 kam der gelernte Scharfrichter und Abdecker aus Süddeutschland nach Werder und pachtete die Scharfrichterei. Sein Hauptbetätigungsfeld war aber wohl die Abdeckerei. Befand sich das Scharfrichterhaus ursprünglich außerhalb der Stadt, rückte die Nachbarschaft im 19. Jahrhundert immer näher.

Nach zunehmenden Beschwerden über die Geruchsentwicklung wurde der Abdeckerbetrieb 1889 nach Kemnitz verlegt.

Die zweite Bachhuber-Generation zog sich aus dem Geschäft zurück und nutzte das Gebäude als Wohnhaus. So auch noch, als Christian Morgenstern in der Stadt war. Folgerichtig musste ein Bund der Galgenbrüder für Werder im Jahre 1895 neu erfunden werden.

Der Weg zu dem heutigen Festakt führt

· über den Erwerb der Bismarckhöhe durch die Stadt Werder (Havel) vor 20 Jahren,
· die Gründung des Förderkreises Bismarckhöhe,
· die Sanierung der Bismarckhöhe
· und eine kleine Morgenstern-Ausstellung im Turm
· zum Christian-Morgenstern-Literaturmuseum und
· zur Morgensterngesellschaft.

Dieser Weg wurde von vielen Menschen begleitet, die teilweise heute hier im Raum sitzen. Ich möchte stellvertretend unseren Ehrenbürger und Altbürgermeister Werner Große nennen, der die Entwicklung der Bismarckhöhe maßgeblich angestoßen und damit den Ort ermöglicht hat, an dem der Dichter heute gewürdigt wird.

Und ich möchte, ebenfalls stellvertretend für alle Akteure, Achim Risch nennen. Wie kein anderer hat sich Achim Risch um die Wiederbelebung des Erbes von Christian Morgenstern in Werder verdient gemacht.

· Zunächst als Chronist des Förderkreises Bismarckhöhe,
· dann als Initiator des Morgensternzimmers und des Christian Morgenstern Literaturmuseums,
· heute als Ehrenvorsitzender der Christian Morgenstern Gesellschaft, die ihren Sitz in Werder (Havel) hat.

So wie sich das gehört.

 

Werder (Havel), 14.05.2022