Ein Jahr wie im Zeitraffer
Worte von Bürgermeisterin Manuela Saß zum 3. Oktober 2020
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Diese Webseite verwendet YouTube Videos. Um hier das Video zu sehen, stimmen Sie bitte zu, dass diese vom YouTube-Server geladen wird. Ggf. werden hierbei auch personenbezogene Daten an YouTube übermittelt. Weitere Informationen finden sie HIERZwei Wochen nach der Ratifizierung des Einigungsvertrages durch die Volksammer und den Bundestag ist Deutschland am 3. Oktober 1990 wieder zu einem Land geworden. 30 Jahre später erinnern wir an diesen Tag und an die Menschen, die das Ende der Teilung auch bei uns in Werder bewirkt haben. Die Wiedervereinigung markierte den Abschluss einer Entwicklung, die mit den Reformen durch Michael Gorbatschow in der UdSSR, der Bürgerrechtsbewegung in Polen und anderen Ostblockstaaten, der Grenzöffnung in Ungarn und nicht zuletzt der Fälschung der DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 Fahrt aufgenommen hatte.
Im Herbst 1989 sammelten DDR-Bürger ihren Mut und gingen für Gewaltenteilung, Pressefreiheit und demokratische Wahlen auf die Straße. Bis zur Grenzöffnung am 9. November war durchaus nicht klar, ob es zu einer chinesischen Lösung kommen würde. Beim Tiananmen-Massaker hatte das chinesische Militär die Proteste der jungen Demokratiebewegung brutal und blutig niedergeschlagen.
Auch in unserer Stadt gehörte im Herbst 1989 einige Courage dazu, sich gegen den bestehenden Unrechtsstaat aufzulehnen. So gingen 21 Werderaner Ende Oktober ein hohes Risiko ein, als sie im evangelischen Gemeindehaus ihre Unterschriften unter den Gründungsaufruf des Neuen Forums setzten, mit Name und Adresse. Viele trugen Schildchen, die mit Gardinenklammern an der Kleidung befestigt waren; „Befürworter des Neuen Forums!“. Es war der Beginn der Arbeit des Neuen Forums in Werder. Das Ministerium für Staatssicherheit führte zu solchen Aktionen immer noch Buch.
Ich möchte einmal aus dem Gründungsaufruf der größten DDR-Oppositionsgruppe zitieren:
„In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen diesen Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein. Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.“
Für junge Menschen mag das heute harmlos klingen, damals galten die Verfasser als Staatsfeinde. Die Angst der SED-Diktatur war berechtigt, die Worte kennzeichneten den Beginn einer friedlichen Revolution in der DDR.
Am 3. Dezember gingen auch die Werderaner auf die Straße
Es lohnt sich, mit Dokumenten aus unserem Stadtarchiv und dem Teil 3 unserer Werder-Chronik zum heutigen Tag einen Blick auf die turbulenten Monate zu werfen, die der Wiedervereinigung auch in Werder vorausgegangen waren: Viele unserer Einwohner hatten an den Demonstrationen, Aktionen und Protesten teilgenommen, die in diesen Tagen in Berlin, Potsdam und an anderen Stellen stattgefunden hatten. Unter dem Druck des Volkes fiel am 9. November 1989 die Mauer und es wurde klar, dass Undenkbares plötzlich in den Bereich des Möglichen rückt.
Am 3. Dezember, einem nebligen Tag, kam es in Werder zu einer Kundgebung unter dem Motto „Lasst nicht nach“, die neue Ortsgruppe des Neuen Forums hatte dazu aufgerufen. Hunderte Teilnehmer waren dabei. „Mit dieser Demonstration wollen wir auch unseren Dank für Perestroika und Glasnost gegenüber den sowjetischen Menschen zum Ausdruck bringen“, hieß es im Aufruf. Drei Tage später forderte das Neue Forum in Werder von Bürgermeister Schäfer in einem Offenen Brief, einen „Runden Tisch“ einzuberufen. Darin heißt es:
„Im Lande wird auf Grund der Machenschaften bei den letzten Wahlen die Legitimität aller Volksvertretungen angezweifelt. Eine außerordentliche Stadtverordnetensitzung mit unserer gleichberechtigten Teilnahme sollte schnellstmöglich einberufen werden und über unsern Vorschlag befinden. An uns als Neues Forum wenden sich mehr und mehr Bürger, die über Fälle von Gesetzesverletzungen in unserer Stadt im Zusammenhang mit der Ausübung von Ämtern berichten. Wir haben dazu eine Kommission gebildet und fordern sie auf, als Rat oder als Volksvertretung im Interesse einer Sicherheitspartnerschaft dort mitzuarbeiten.“
Der Brief hatte Erfolg, einen ersten Runden Tisch gab es noch im Dezember 1989. Im Stadtarchiv sind die Protokolle der Runden Tische vom 4. Januar 1990 bis zum 20. April 1990 dokumentiert. Laut Geschäftsordnung nahmen zwei Vertreter jeder Partei oder Organisation an den Treffen teil, die Sitzungsleitung wurde in alphabetischer Reihenfolge der Partei und Organisation bestimmt.
Auch das Baumblütenfest stand auf der Tagesordnung des Runden Tisches
Inhaltlich ging es um Themen wie die Verschmutzung der Havel, die Bereitstellung neuer Telefonanschlüsse, das baufällige Alte Rathaus, die Müllkippe in Glindow, die Lagerung von Bauschutt auf öffentlichen Straßen und Plätzen, den Verdacht des Amtsmissbrauch bei der Grundstücksvergabe oder die Eigentumsverhältnisse von Objekten wie der Bismarckhöhe und der Friedrichshöhe. Ein Antrag lautete, Fahrzeuge und Schreibtechnik des Ministeriums für Staatsicherheit der Volkssolidarität zur Verfügung zu stellen.
Auch das Baumblütenfest stand immer wieder auf der Tagesordnung. Das beim Runden Tisch vorgestellte Konzept umfasste fünf Seiten. Das Fest sollte 838.500 Ost-Mark kosten und 1.058.715 Mark einspielen. Der Erlös sollte in den weiteren Aufbau der Inselmühle und den Tourismus fließen.
Die Vorbereitung der Kommunalwahl am 6. Mai 1990 wurde ebenfalls am Runden Tisch besprochen, längst hatte er viele Aufgaben der Stadtverordneten übernommen. Parallel zu den Aktivitäten der Runden Tische in der ganzen DDR begann der Stern der Bürgerrechtsbewegung aber bereits zu verblassen. Es war eine Zeit, in der die Ereignisse wie im Zeitraffer aneinander geschnitten waren. Ein viertel Jahr vorher mussten sich die DDR-Bürger fürchten, auf der Straße für ihre Rechte einzustehen. Anfang des Jahres 1990 stand Helmut Kohl auf ostdeutschen Tribünen und warb unter dem Jubel der Massen für die Deutsche Einheit.
Mit der Volkskammerwahl am 18. März entschied sich die Mehrheit der Wähler gegen eine Weiterführung des sozialistischen Experimentes unter neuen Vorzeichen. Mit einem klaren Votum wurden die Weichen in Richtung Freiheit, Selbstbestimmung und Wohlstand gestellt. Unter diesem Eindruck fanden knapp zwei Monate später auch die ersten und letzten freien Kommunalwahlen der DDR statt.
In Werder kam bei einer Wahlbeteiligung von 76,1 Prozent die CDU auf 35,58 und die SPD auf 30,42 Prozent der Stimmen. Die beiden Parteien bildeten eine Koalition und sorgten in den ersten Nachwendejahren unter schwierigen Vorzeichen gemeinsam für Stabilität in der Stadt. Als drittstärkste Kraft kam die PDS auf 12,45 Prozent, das Neue Forum hatte nur noch 7,38 Prozent.
Das Hauptproblem wurden wegbrechende Arbeitsplätze
Werner Große wurde von den Stadtverordneten als Bürgermeister eingesetzt. Er hatte keine leichte Aufgabe: Die Infrastruktur war marode, Wohnungen fehlten und es gab massive Umweltprobleme. Abwasseranschlüsse waren teilweise illegal an die Regenwasserkanalisation angeschlossen worden, der Dreck floss in die Havel. Investoren und Goldgräber aus dem Westen fluteten die Stadt und die gesetzliche Rahmenbedingungen änderten sich in rasendem Tempo. Spätestens mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 brachen große Teile der Wirtschaft zusammen. Die Treuhand übernahm die volkseigenen Betriebe.
Ein Beispiel für die Stimmung in diesen Tagen vor der Einheit ist ein Schreiben vom 10. Juli 1990 der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Obst und Gemüse Glindow an den Bürgermeister: Sie beantragt, dass die Stadt Leistungen wie Wege- und Krippenbau oder Kulturveranstaltungen aus einem Zeitraum der letzten acht Jahren begleichen soll, die „uneigennützig für das Gemeinwohl“ durch die LPG erbracht wurden. Es geht um 1,24 Millionen Mark. Die Stadt war zur Rettung der Genossenschaft weder juristisch noch finanziell in der Lage.
Wegbrechende Arbeitsplätze wurden in diesen Monaten zum Hauptproblem. Die Stadt selbst musste sich nach Einführung der D-Mark von vielen Mitarbeitern trennen. Der Betrieb einer Propangasabfüllstation, einer Heißmangel, eines Campingplatzes, eines Altersheim oder einer Nähstube war weit entfernt von den Aufgaben und Möglichkeiten der kommunalen Selbstverwaltung. Das galt auch für das Ambulatorium, mit dem die Privatisierung noch vor der Einheit begann. Viele der Ärzte machten sich, unterstützt durch günstige Mieten der Stadt, am Standort des Ambulatoriums selbstständig.
Hinzu kam: Mit der kommunalen Selbstverwaltung gab es in der Stadt nach 40 Jahren Zentralismus trotz großer Ambitionen keinerlei Erfahrungen. Eine durch die Karnevalsvereine vermittelte Partnerschaft mit der Stadt Siegburg war bei der Vermittlung von Verwaltungsknowhow eine unentbehrliche Hilfe. Alt-Bürgermeister Große erinnert sich in der Werder-Chronik, wie ihm ein Siegburger Karnevalist kurz nach der Wahl eine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte. „Wenn sie Hilfe brauchen, rufen sie unseren Stadtdirektor Dr. Konrad Machens an“, sagte er.
Werder verschaffte sich mit dem neuen Bürgermeister einen guten Vorsprung
Werner Große machte sich erstmal schlau, wo Siegburg überhaupt liegt: Eine 40.000 Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen. Die Telefonverbindungen waren nach Westdeutschland allerdings noch katastrophal. Er fuhr auf die Westseite der Glienicker Brücke und zu einer Telefonzelle. Vier Tage später war die Siegburger Stadtspitze erstmals im Rathaus. Die Partnerschaft sollte sich bei den ersten Schritten in die Selbstverwaltung als riesige Hilfe erweisen.
Werder verschaffte sich mit dieser Flankierung in den ersten Nachwendemonaten und -jahren einen guten Vorsprung. Immerhin standen Millionenmittel aus den Programmen des Aufbau Ost bereit. Doch um sie abzurufen, benötigte man erstmal eine Planungsgrundlage. Noch im September 1990 beschlossen die Stadtverordneten ein räumliches Nutzungskonzept für die Stadt, das in den kommenden Monaten weiter verfeinert wurde. Es wurde die erste Richtschnur für die bauliche, wirtschaftliche und touristische Entwicklung.
Auf den Bildern aus den Wendejahren, die der Kurator des Kunst-Geschosses Frank W. Weber im vergangenen Jahr für eine Ausstellung zum Jubiläum des Mauerfalls zusammengestellt hat, ist der desolate Zustand zu erkennen, in dem sich die Stadt seinerzeit befunden hat. Dennoch machte sich damals Hoffnung unter den Werderanern breit. Der Umbruch war mit vielen Risiken verbunden, aber vor allem mit Chancen für unsere Stadt und ihre Bürger.
Die Werderaner haben in schweren Zeiten oft besonderes Rückgrat bewiesen. Immer wieder haben sie sich in ihrer Geschichte auf ihre starken Wurzeln besonnen, Tatkraft und Unternehmergeist gezeigt und sich bietende Chancen nicht verstreichen lassen. So sollten auch die 90er-Jahre eine Zeit werden, in der sich unsere Stadt mit Riesenschritten nach vorn bewegte.
Unter schwierigen Vorzeichen gelang ein hervorragender Start
Im Teil 3 unserer Werderchronik werden Schwerpunkte zusammengefasst, die die Stadtverordneten in ihren ersten Sitzungen 1990 setzen: Ordnen der kommunalen Finanzen; Schaffung eines Baurechts für die Stadt und Wohnungsbau; Infrastrukturelle Erschließung, die einer modernen Stadt gerecht wird. Wirtschaftsförderung und Schaffung von Arbeitsplätzen.
Unter schwierigen Vorzeichen gelang für Werder mit dieser Zielsetzung ein hervorragender Start, der 3. Oktober wurde mit einem großen Volksfest gefeiert. Bei einem Ballonflug konnten sich die Besucher von der einmaligen landschaftlichen Lage der Stadt überzeugen. Auch wenn noch unzählige Schwierigkeiten bevorstanden, finde ich bemerkenswert, was allein bis zum 3. Oktober 1990 bereits auf den Weg gebracht wurde.
In der ersten Ausgabe der Werderaner Zeitschrift „Generalanzeiger“ schreibt Bürgermeister Große am 12. Oktober 1990, keine fünf Monate nach der Kommunalwahl:
„Wie Sie wissen, stehen wir auch in unserer Stadt vor einer Vielzahl von Problemen, die uns hinterlassen wurden. Diese sind schwierig, aber nicht unlösbar. Die Wirtschaftsförderung und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist vordringlichste Aufgabe. Die bestätigten Bauvoranfragen der Propangeräte GmbH und die Handelseinrichtungen der Firmen Reichelt und Euco sind hierzu erste Schritte. In der Planung ist ein Gewerbegebiet von 80 ha gemeinsam mit den Gemeinden Kemnitz und Phöben im Bereich der Autobahn. Im Umweltschutz wird Anfang November die Abwasserleitung Senkstrasse – Kemnitzerstrasse in Betrieb gehen. Noch in diesem Jahr beginnen die Tiefbauarbeiten in der Potsdamer Straße. Hierfür sind 5,6 Millionen Mark bereitgestellt. Nicht zuletzt wird noch im November mit der Sanierung der Inselbrücke begonnen und auch die Inselmühle wird bis April 1991 fertiggestellt.“
Der 3. Oktober 1990 symbolisiert wie kein anderer Tag den ersten Schritt auf einem außerordentlich beschwerlichen Weg. Nach dem Ende der DDR zeigte sich, dass die Probleme deutlich größer waren als angenommen. Die Lasten der Einheit waren nicht immer gerecht verteilt und viele Ostdeutsche hatten auch in unserer Stadt in den Jahren nach der Wiedervereinigung bittere Pillen zu schlucken.
Schauen wir uns die Wirtschaftskraft, die Beschäftigungsquote, die Infrastruktur, den Tourismus, die Umweltsituation oder den baulichen Zustand unserer Stadt heute an, so zeigt sich, dass in der Bilanz für Werder ganz klar das Positive überwiegt. Auch wenn es neue Herausforderungen gibt und besonders der Zusammenhalt, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag formulierte, eine große Zukunftsaufgabe bleibt, so wurde in drei Jahrzehnten unglaublich viel erreicht.
Der 3. Oktober markiert somit den Beginn einer erfolgreichen Kraftanstrengung, Ostdeutschland in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht mit den Alten Bundesländern zu vereinen. Eine Vielzahl von Namen ist damit auch in Werder (Havel) verbunden, jeder Einzelne hat seinen Beitrag dazu geleistet. Für die erzielten Erfolge möchte ich mich bei allen Bürgern, die diesen Weg angestoßen und gemeinsam mit der Stadt gegangen sind, ganz herzlich bedanken.
Manuela Saß
Bürgermeisterin
Werder (Havel), 3.10.2020