17. Juni in Werder: RIAS auf der Kirschplantage

Der Werderaner Zeitzeuge Gerhard Opitz hatte bei der Kirschpflücke von den Ereignissen in Berlin erfahren. Er war ihm nicht klar, wie nah sie rücken sollten.

Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F005191-0040 / CC-BY-SA 3.0
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Sowjetische Panzer am 17. Juni 1953 in Berlin.

17. Juni 1953: Der Werderaner Gerhard Opitz hat vor drei Tagen sein Abiturzeugnis bekommen, als einer der letzten Abiturjahrgänge in der damaligen Oberschule in der Eisenbahnstraße. An diesem Mittwoch im Juni steht er nun seit dem frühen Morgen auf einer Leiter in einer Kirschplantage in Elisabethhöhe und hilft bei der Ernte. Ein Schulkamerad stammt aus einer Obstzüchterfamilie. Die Unterstützung ist willkommen und Gerhard Opitz weiß, dass er sich am Schluss einen Korb Knuppern mit nach Hause nehmen darf.

Die Kirschen schmecken auch vom Baum, doch zwischen das entspannte Vogelgezwitscher mischt sich Unruhe: Ein Familienmitglied seines Freundes unterbricht die Ernte immer wieder, um zum Radio zu gehen und die neuesten Nachrichten zu hören. Wenn er zurückkommt, sagt er Sätze wie: „Leute, das könnt ihr euch nicht vorstellen. In Berlin ist was los." Seit dem frühen Morgen hatte der RIAS über die Demonstrationen in Ostberlin und die „Volksfeststimmung" dort berichtet. Die Stimmung kippte, als russische Panzer anrollten und der Sowjetische Militärkommandant um 13.44 Uhr den Ausnahmezustand verhängte.

Schon seit dem Frühjahr sei in der jungen DDR etwas ins Rutschen gekommen, erinnert sich Gerhard Opitz. „Stalins Tod am 5. März war eine Zäsur gewesen." Mit Walter Ulbricht habe sein „Einpeitscher" in der DDR, der „Spitzbart", weiter als SED-Chef an den Hebeln der Macht gesessen.  Wird der Ausbau des Überwachungsstaates ohne Stalin weitergehen? Gibt es eine Chance für Veränderungen in der DDR? Müssen wir uns weiter alles gefallen lassen? Gespräche über solche Themen seien zu diesem Zeitpunkt allenfalls in der Familie oder im engsten Freundeskreis geführt worden.

„Wisst ihr denn nicht, dass Ausnahmezustand ist"

Die Hoffnungen, die sich auch in Werder (Havel) leise breit machen, sind trügerisch. Bevormundung und Repression gehen auch ohne Stalin fast unverändert weiter. Dass die SED im Mai die Arbeitsnorm erhöht, ein Funktionär der Einheitsgewerkschaft FDGB das in der Gewerkschaftszeitung Tribüne auch noch rechtfertigt, bringt das Fass allerdings kurzzeitig zum Überlaufen. 600 Betriebe legen in den nächsten Tagen die Arbeit nieder.

Foto: Stadt Werder (Havel) / hkx
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Der 87-jährige Zeitzeuge Gerhard Opitz.

In einer Zeit, in der das Radio noch keine Selbstverständlichkeit war, kann Gerhard Opitz nicht wissen, welche Ausdehnung der Berliner Aufstand, von dem er aus zweiter Hand auf dem Kirschbaum gehört hatte, bereits hat. Nichtsahnend fährt er am kommenden Tag mit einem Freund und dessen Schwester nach Potsdam. Bei der Zeugnisübergabe hatte ihnen der Musiklehrer ein Konzert in Sanssouci empfohlen.

Gerhard Opitz weiß nicht mehr, in welchem Gebäude es stattgefunden hatte. Aber er erinnert sich gut an das Schild an der Tür: Das Konzert war ohne Begründung abgesagt.

„Geschniegelt und leichten Schrittes" seien sie weiter zum Platz der Nationen (heute Luisenplatz) spaziert, hätten sich gewundert, wie leergefegt der Park gewesen war. Eine vorbeihastende Frau raunt ihnen zu: „Ja was macht ihr denn hier. Wisst ihr denn nicht, dass Ausnahmezustand ist." Gerhard Opitz erinnert sich: „Ich kannte weder das Wort Ausnahmezustand, noch wusste ich, dass damit nächtliche Ausgangssperren und ein drohendes Kriegstribunal verbunden waren."

Zu Fuß auf den Weg nach Hause gemacht

Angekommen am Platz der Nationen wird das Trio dann doch etwas nervös. Sowjetsoldaten mit Maschinengewehren und aufgepflanzten Bajonetten flankieren den Platz. Vom städtischen Leben ist wenig zu spüren. Es fahren weder Busse noch Straßenbahnen. Um die Schwester des Freundes in Sicherheit zu bringen, spricht die kleine Truppe einen Motorradfahrer mit Beiwagen an. Er nimmt sie mit nach Werder. Die beiden Jungs machen sich eilig zu Fuß auf den Weg nach Hause und staunen vor der Stadtgrenze über die Zahl der russischen Militärfahrzeuge, die aus Richtung Werder nach Potsdam unterwegs sind.

Foto: Stadt Werder (Havel) / rsc
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Der 1. Beigeordnete Christian Große und die Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung., Annette Gottschalk, legten heute ein Gebinde am Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewalt nieder.

Die Geschehnisse dort dringen erst später an ihre Ohren: Die Belegschaft des Karl-Marx-Werkes „Lokomotivbau Babelsberg" hatte am Nachmittag des 17. Juni erstmals die Arbeit niedergelegt. Am selben Nachmittag wird im Sowjetischen Militärkommandant der Ausnahmezustand auch über die Stadt und den Bezirk Potsdam verhängt. Davon unbeeindruckt wiederholt sich der Streik im Karl-Marx-Werk am 18. Juni. Rund 1500 Arbeiter versammeln sich zu einer Demonstration, fordern freie und geheime Wahlen sowie eine sofortige Senkung der Normen und der Lebensmittel-Preise.

Die Omnibusfahrer der Verkehrsbetriebe Potsdam erklären sich mit den Streikenden des Karl-Marx-Werkes solidarisch und legen gegen 13 Uhr ihre Fahrzeuge still. Sie versuchen auch, die Straßenbahnfahrer zum Streik zu bewegen. Auch im Reichsbahnausbesserungswerk legen Beschäftigte die Arbeit nieder. Brandenburg wird flächendeckend von den Protesten erfasst, in 150 Städten kommt es zu Streiks und Unruhen, die in den folgenden Tagen brutal niedergeschlagen werden. Zentrum des Widerstands in der Region ist die Industriestadt Brandenburg (Havel).

Posten an der Baumgartenbrücke

Die beiden Jugendlichen treffen auf dem Heimweg nach Werder auf weitere Militärposten. „An der Baumgartenbrücke und an der Strengbrücke standen an beiden Seiten bewaffnete Sowjetsoldaten", erinnert sich Gerhard Opitz. In Werder (Havel) angekommen beruhigt sich die Lage. Mittlerweile hat sich die Situation auch zu Hause herumgesprochen. Die Jungs kommen heil an, das ist nicht selbstverständlich in diesen Tagen. Die Eltern sind erleichtert. Das Leben kann wieder seinen Werderaner Lauf gehen.

Foto: Stadt Werder (Havel) / rsc
Foto: Stadt Werder (Havel) / rsc
Denkmal für die Opfer der Werderaner Widerstandsgruppe, deren Mitglieder 1952 verurteilt wurden.

Es bleibt - zumindest an der Oberfläche - erstaunlich ruhig in der Stadt.  Zu diesem Zeitpunkt sei noch sehr präsent gewesen, wie erbarmungslos das Regime mit „Klassenfeinden" umgeht, nennt Gerhard Opitz als möglichen Grund. Erst gut ein Jahr zuvor hatte es eine Werderaner Widerstandsgruppe aus Lehrlingen, Schülern und Studenten getroffen, die sich - ausgehend von der Carl-von-Ossietzky-Schule und der Jungen Gemeinde - gegen die diktatorischen Verhältnisse in der jungen DDR zur Wehr gesetzt hatte.

Das Sowjetische Militärtribunal  verurteilte sieben junge Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren zum Tode. Vierzehn Mitverurteilte erhielten Arbeitslager-Haftstrafen zwischen 10 und 25 Jahren. Sechs junge Frauen und Männer schickte das Landgericht Potsdam für dreieinhalb bis sechs Jahre ins Zuchthaus. „Das waren alles bekannte Gesichter in der Stadt", sagt Gerhard Opitz. In Werder erinnern eine Gedenktafel an der Carl-von-Ossietzky-Schule und ein Gedenkstein auf dem Alten Friedhof an die Gruppe.

 „Die Bilder wiederholten sich ja später in Ungarn und der Tschechoslowakei."

Auch beim DDR-weiten Volksaufstand 1953 arbeiten die Sicherheitsorgane der Besatzer mit denen der DDR beängstigend effektiv und Hand in Hand: 34 Demonstranten, Passanten und Zuschauer wurden bis zum 23. Juni von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen oder starben an den Folgen von Schussverletzungen. Allein bis zum Morgen des 6. Juli 1953 wurden 10.000 Menschen in der Folge des Volksaufstandes festgenommen. Fünf Männer wurden von Instanzen der sowjetischen Besatzungstruppen zum Tode verurteilt und hingerichtet, zwei Todesurteile von DDR-Gerichten verhängt und vollstreckt.  

Gerhard Opitz hat sich dieser Ausflug nach Potsdam in sein Gedächtnis eingeprägt. „Die Bilder wiederholten sich ja später in Ungarn und der Tschechoslowakei."

Nach seinem Abitur nahm Gerhard Opitz ein Lehrerstudium auf. Über drei Jahrzehnte hat er die Schullandschaft Werders als Lehrer und als Direktor der Carl-von-Ossietzky-Schule mitgestaltet und geprägt. Im Jahr 2000 durfte er sich für seine Verdienste beim Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung von Werder und die Stadtentwicklung seit 1990 ins Goldene Buch eintragen. Bis in die Gegenwart ist er kommunalpolitisch als Stadtverordneter aktiv.

Heute glaubt er: „Ohne die russischen Panzer wäre der 17. Juni 1953 ein 4. November 1989 geworden."

Quellen

 

Werder (Havel), 17.06.2023